14 Vorgaben erschweren die Nutzung von innovationsorientierten Mindsets. Das Ökosystem Krankenhaus hat zu- sätzlich Besonderheiten. Auf der einen Seite wirken permanent unvorherseh- bare Einflüsse ändernd auf das System ein, auf der anderen Seite besteht ein hoher Bedarf an Prozessstabilität und Standardisierung, um eine qualitativ hochwertige und sichere Patienten- versorgung gewährleisten zu können. Das steht für viele Menschen zunächst in einem Widerspruch: Wie soll ein Prozess stabilisiert und standardisiert werden, wenn gleichzeitig im hohen Maße flexibel auf sich ändernde Gege- benheiten reagiert werden muss? Genau diesen Widerspruch aufzulö- sen, ist jedoch die Besonderheit und Stärke der Agilität. Agilität bedeutet nicht, ohne Standards, Regeln und Vorgaben zu handeln. Es bedeutet vielmehr: Derjenige, der agil handelt, weiß, wann und in welcher Art und Weise er von diesen Standards und Vorgaben im begründeten Fall abweichen kann (und muss), um somit auf unvorhersehbare Ereignisse reagie- ren zu können und innovativ sowie erfolgreich zu sein. Das Krankenhaus als solches, losge- löst von dem System, in dem es sich befindet, ist ein Paradebeispiel für die Sinnhaftigkeit einer agilen Arbeits weise. Einer Mitarbeitendenschaft mit hohen Fachkompetenzen steht eine unbegrenzte Fülle von möglichen Arbeitsprozessen (aufgrund unter- schiedlichster Symptom- und Krank- heits bilder) und unberechenbarer Situa tions veränderungen aufgrund einer dynamischen Patientenbewe- gung gegenüber. Durch Fachkompe- tenz und Organisationsvermögen müssen die Mitarbeitenden in der Lage sein, auf externe Ereignisse wie zum Beispiel eine Pandemie zu reagieren und dabei einem höchsten Anspruch auf optimale Produktqualität (Patienten- versorgung) gerecht zu werden. Um diese Garantie einzulösen, müssen alle Bereiche miteinander effektiv in- teragieren. Gerade an den Schnittstel- len eines Krankenhauses kann dies jedoch oftmals problematisch werden. Durch „Dorfdenken“ einzelner Fachab- teilungen werden interdisziplinäre und Monitor 1 /2023 interprofessionelle Strukturen ausge- bremst. In der Notaufnahme bedarf es zum Beispiel einer optimalen Zusam- menarbeit der verschiedensten Berei- che. Zahlreiche Studien belegen, dass im Vergleich zur früher üblichen Not- fallversorgung unterteilt nach Fach- abteilungen (der internistische oder der chirurgische Notfall) das Outcome eines Patienten besser ist, wenn dieser ganzheitlich in einer zentralen Notauf- nahme versorgt wird, statt mit dem eingeschränkten Blick einer einzelnen Fachabteilung betrachtet zu werden. Die Mitarbeitenden befassen sich mit unterschiedlichen Versorgungsspek- tren und verfallen somit nicht in eine „Fachblindheit“. Durch eine agile Prägung von Kranken- häusern wird eine Arbeitssituation er- möglicht, die langfristig zu einer Ver- besserung des Arbeitsklimas führt, indem die interdisziplinären und inter- professionellen Mauern eingerissen werden. Die Einzelinteressen eines jeden werden hinten angestellt. Die optimale Patientenversorgung steht im Fokus. Durch die im agilen System eingesetzten Werkzeuge entwickelt sich außerdem eine Kultur, die einen offenen und transparenten Umgang mit Fehlern und Beinahefehlern lebt und es so ermöglicht, aus diesen zu lernen und sie zukünftig zu vermeiden. Aus unvorhersehbaren Ereignissen können durch agile Methoden und Ins- trumente Ereignisse werden, auf die mit einer gewissen Vorausplanung reagiert werden kann. Das hat sich zum Beispiel in den Herausforderungen der Corona- Pandemie gezeigt. Krankenhäuser mussten zusätzlich zu ihrem regulären Versorgungsauftrag auf die besonde- ren Anforderungen der pandemischen Lage reagieren. Weitere Intensivver- sorgungsplätze und Isolationsstationen mussten eingerichtet, Prozesse für die Versorgung von infektiösen und nicht infektiösen Patienten vorbereitet und die Mitarbeitenden auf eine solche Situation hin geschult werden. Das Gesundheitssystem setzt Grenzen Krankenhaus kann eben (leider) nicht losgelöst von dem System gesehen werden, in dem es sich befindet. Agilität ist nur dann sinnvoll, wenn sie angewandt wird, um Prozesse bezie- hungsweise Arbeitsweisen zu opti mieren und nicht, um kompensatorisch auf anderweitige Missstände zu rea- gieren. Agilität ist ursprünglich zur innovativen Fortentwicklung eines Unternehmens und nicht als „Lücken- füller“ gedacht worden. Deutsche Krankenhäuser leiden seit Jahren unter Personalmangel und Unterfinanzierungen. Einer Veröffent lichung der deutschen Krankenhaus- gesellschaft von 2019 ist zu entneh- men, dass zu diesem Zeitpunkt ein Investitionsstau von mindestens 30 Milliarden Euro im deutschen Kranken- haussystem vorlag. Hinzu kommt der Fachkräftemangel: Bis 2035 werden rund 307.000 Pflegekräfte in der sta tionären Versorgung fehlen (Radtke R., 2020, „Prognostizierter Bedarf an stationären und ambulanten Pflege kräften* in Deutschland bis zum Jahr 2035“). Die zur Verfügung gestellten Finanzmittel reichen oftmals nicht aus, die gesetzlich vorgegebene Struktur der Krankenhausfinanzierung kann aber von den Kliniken auch nicht oder nur kaum durchbrochen werden. Diese Situation setzt die Krankenhäuser unter einen enormen wirtschaftlichen Druck – wobei das dualistische Finan- zierungssystem durch klare Kosten- zuweisungen die Gesundheitseinrich- tungen auch im wirtschaftlichen Handeln zum Teil wieder beschränkt. Fazit Das deutsche Gesundheitssystem stellt mit seinem Finanzierungssystem und seinen Strukturen ein konservati- ves Konstrukt dar, das nur schwer mit den Veränderungen der Zeit mithalten kann. Einrichtungen wie Krankenhäu- ser sind gezwungen, neue Wege zu gehen, um sich über den Auftrag als Grund- und Regelversorger hinaus behaupten zu können. Neue Konzepte, Strategien und Denkweisen müssen hierfür herangezogen werden. Genau in solchen Extremsituationen werden neben den Stärken der Agilität aber auch die Grenzen der Umsetzung im Krankenhaussystem sichtbar. Ein Agilität kann je nach Anwendung ein solches Konzept, eine solche Strategie und Denkweise sein. Agilität wird konservative Mauern einreißen und